Montag, 28. November 2011

Religion: Der Elefant im Wohnzimmer

Burkina Faso 11/2011 (Bild: Contextlink)
Seit Tagen studiere ich an einem einordnenden Artikel über die Religiosität der Welt herum. Darüber, dass wir aufgeklärten Säkularisten die Ausnahme sind - und vielleicht gar eine aussterbende Spezies.
Bei der Recherche bin ich auf einen Artikel des österreichisch-amerikanischen Soziologieprofessors Peter L. Berger in der "Frankfurter Rundschau" gestossen. Besser kann ich es nicht formulieren, was ich denke und was ich hier in Afrika im Zusammenhang mit der Healing Jesus Crusade erlebe und studiere. Ich kopiere den Artikel ganz:

In der klassischen Periode der Soziologie hat man den Religionen keine übertriebene Aufmerksamkeit geschenkt. Dafür gibt es wahrscheinlich eine Reihe von Gründen. Einer dürfte sein, dass nur wenig Geld für entsprechende Forschung bereitgestellt wird, da sich öffentliche wie private Geldgeber scheuen, umstrittene Projekte zu unterstützen. Oder, was insbesondere auf öffentliche Einrichtungen zutreffen dürfte, den Eindruck zu erwecken, die Trennung von Staat und Kirche zu unterlaufen.


Doch gibt es noch einen tiefer liegenden Grund für die Zurückhaltung unseres Fachs: Soziologen gehören zur Klasse internationaler Intellektueller, die in hohem Maße als säkularisiert gelten darf. Sie sind der sogenannten Säkularisations-Theorie verpflichtet, wonach die Moderne unvermeidlich zu einem Niedergang der Religionen führt. Man schreckt davor zurück, sich mit „rückwärts“ gewandten Phänomenen zu beschäftigen – da sie ohnehin bald verschwunden sein werden.
Säkular eingestellte Menschen fühlen sich angesichts der leidenschaftlich gelebten Formen religiösen Glaubens unbehaglich. Sie neigen dazu, sie zu ignorieren oder zu pathologisieren. Ich möchte dennoch die Aufmerksamkeit darauf lenken und über die Pfingstbewegung sprechen, die gegenwärtig am schnellsten wachsende religiöse Bewegung der Welt. In vielen Ländern, insbesondere in Afrika und Lateinamerika, gingen von der Pfingstbewegung erhebliche soziale Umwälzungen aus.

Das Phänomen hat mittlerweile Dimensionen erreicht, die eigentlich kaum noch zu ignorieren sind. Doch selbst wenn man ein Phänomen nicht ignorieren kann, lässt es sich immer noch wegerklären. Etwa indem religiöse Bewegungen auf politische, soziale, ethnische oder sonst welche Faktoren zurück geführt werden. So als sei das Religiöse der im Englischen sprichwörtliche Elefant im Wohnzimmer: Man tut so, als sei er nicht da, man redet drum herum.

Eine unglaubliche Anstrengung! Immerhin, seit den Terroranschlägen vom 11. September 2001 ist das anders geworden. Der Elefant hat seine Notdurft auf dem Teppich verrichtet – das ist schon schwerer zu übersehen. Aber im Allgemeinen tun sich Soziologen weiterhin schwer, die Religion aus sich selbst heraus zu verstehen. Doch lassen wir uns nicht täuschen: Wir leben bis auf wenige Ausnahmen in einer durch und durch religiösen Welt. Das nicht wahrhaben zu wollen, heißt, die Welt nicht zu sehen, wie sie „wirklich“ ist.
Mit Bezug auf das Leitmotiv dieser Konferenz lässt sich sagen, dass Religionen zu den stärksten transnationalen Bewegungen zählen. In anderen Worten, die Säkularisationstheorie ist nachdrücklich falsifiziert worden. Diese Theorie hat offenkundig nicht gehalten, was man sich von ihr versprochen hat. Der Begriff „Säkularisationstheorie“ ist in den 50er Jahren aufgekommen; er gründet auf allgemeinen Annahmen über die moderne Welt, verfügt aber über keine konsistente Theorie, sondern war lange mit einer im Westen verbreiteten Vorstellung über die Aufklärung verbunden.

In meinem Buch „The Sacred Canopy“ (1967) habe ich mich an einer solchen Theorie versucht. Die Einsicht, dass ich damit falsch lag, hat mich mehr als ein Jahrzehnt gekostet. Das hatte nicht so sehr mit einer Veränderung meiner philosophischen oder theologischen Überzeugungen zu tun als mit einer Reihe von Erfahrungen. Als erstes wäre das Phänomen der „Gegenkulturen“ in den Vereinigten Staaten und Europa zu nennen. Die neue „Spiritualität“ hat unzweifelhaft ihre religiösen Momente, insbesondere bei Hinduisten und Buddhisten.

Ich habe versucht, dieses Phänomen unter dem Begriff der „Gegenmoderne“ zu fassen, merkte aber, dass es nicht passte: Die meisten Menschen, die Yoga oder Kampfsportarten betreiben, die zu Bäumen sprechen und versuchen, mit ihrem wahren (spirituellen) Selbst bekannt zu werden, haben keinerlei Schwierigkeiten, sich in der modernen Welt zurechtzufinden. Dann traten in den USA auch noch die evangelikalen Subkulturen in Erscheinung. Sie waren zwar immer schon da, doch aufmerksam wurde man auf sie erst, nachdem der wiedergeborene Erdnussfarmer Jimmy Carter zum Präsidenten gewählt worden war. Mir war der Evangelikalismus schon vorher begegnet, und ich hatte doch nicht bemerkt, dass immerhin 60 Millionen Amerikaner zu dieser Religionsgemeinschaft gehören.

Hinzu kam meine Erfahrung mit dem, was ich die Dritte Welt nenne. 1969 lud mich Ivan Illich nach Mexiko ein, um dort einen Vortrag zu halten. Ich sah Armut, extremer als je zuvor, und begann erneut, über Entwicklung und Modernisierung nachzudenken. Ich arbeitete zwei Jahre mit Illich, und erweiterte meine Aufmerksamkeit auf andere Länder Lateinamerikas, auf Afrika und Asien. Es ist unmöglich, sich in diesen Ländern aufzuhalten, ohne massive Formen der Religiosität zu erleben. Dabei sind die Religionen oft die treibenden Kräfte für gesellschaftliche Entwicklungen. Die Schlussfolgerung lag also nahe: Die Idee, dass Modernität und Säkularisation untrennbar miteinander verbunden sind, ist eine sehr europäische. Sie trifft nicht einmal auf die Vereinigten Staaten zu. Europa ist die Ausnahme.

Die Welt ist angefüllt mit Religion, auch solchen machtvollen religiösen Bewegungen, die nationale und ethnische Grenzen überschreiten. Fast überall, wohin man auf dieser Welt kommt, steht der Elefant dick und breit da. Nur im Hotelzimmer in Frankfurt oder anderen europäischen Städten wie Stockholm und selbst Dublin, da begegnet man ihm nicht. Man begegnet ihm auch nicht in Indien oder anderen Ländern der südlichen Halbkugel, solange man sich mit Intellektuellen in klimatisierten Konferenzzentren trifft. Doch man wage nur einen Schritt nach draußen, und schon stehen die Götter mitsamt ihrer Anhängerschaft wieder auf. Vor allem in Hinblick auf den islamischen Extremismus gibt es in den akademischen Milieus, aber auch in den Medien, die Neigung, ihn als religiöses Phänomen nicht ernst zu nehmen. Verbreitet ist etwa die Vorstellung, dass vor allem Armut zum Islamismus führe. Dabei kommen allenfalls die „Fußsoldaten“ extremistischer Bewegungen aus den unteren gesellschaftlichen Schichten, das Führungspersonal dagegen rekrutiert sich aus den höheren oder sogar höchsten Gesellschaftsschichten.

Aber auch das Erstarken des Islam in der Türkei wurde mit Hinweis auf die „zurückgebliebene“ anatolische Landbevölkerung erklärt, die sich der modernen Welt aber zuwenden würde, sobald sie nur der Segnungen des Wohlstands und der Bildung teilhaftig geworden wäre. Das genaue Gegenteil ist passiert. Die Basis der jetzt regierenden islamischen Partei besteht aus der Mittelschicht, die beides ist – fromm und ökonomisch beeindruckend erfolgreich. Es sind auch die Kinder der säkularen kemalistischen Elite, die jetzt aus den Umkleidekabinen kommen und sich für Bärte und Kopftücher begeistern.
Doch zurück zu „unserer“ modernen Pfingstbewegung. Die folgenden Eigenschaften zeichnen sie aus: Glossolalie, also das Zungenreden, ein in besonderer Unmittelbarkeit zu Gott gebetetes, ekstatisches Sprechen; dann spirituelle Formen des Heilens; und schließlich die Prophetie. Für die Gründung der Pfingstbewegung wird gewöhnlich das Jahr 1906 genannt, vor allem William J. Seymour, der schwarze Prediger und Mitbegründer der Azusa-Street-Erweckung in Los Angeles. Innerhalb nur weniger Monate scharte er eine wachsende Gemeinde um sich.
Die merkwürdigen Vorgänge in der Azusa Street weckten die amüsierte Aufmerksamkeit der lokalen Presse. Hätte man gewusst, welch mächtige Bewegung daraus einmal erwachsen sollte, wäre man vielleicht nicht nur belustigt gewesen. Missionare wurden von Los Angeles in die gesamten USA und dann auch in andere Länder geschickt. Die Pfingstgemeinde ist zu einem stabilen Teil des amerikanischen Evangelikalismus geworden, doch ihre großen Erfolge feiert sie im Ausland.

Insbesondere in Lateinamerika, das nicht mehr als einheitlich „katholischer Kontinent“ gelten kann, und in Afrika, wo die Mehrheit der Protestanten zur Pfingstbewegung gehört. Auch in China gibt es sie, was für ihren Missionseifer spricht. Einer Studie des Phew Research Center zufolge soll es weltweit 400 Millionen Mitglieder der Pfingstbewegung geben. Das sind wahrscheinlich zu wenig, allein in Afrika rechnet man mit 400 Millionen Menschen – immense Zahlen.
In Guatemala soll ein Drittel der Bevölkerung dazu gehören, südlich der US-amerikanischen Grenze sind es 50 Millionen. Eine aktuelle Studie aus Südafrika geht davon aus, dass jeder Fünfte zur Pfingstbewegung gehört. Die Bewegung wächst unaufhörlich, sogar in Indien, unter den Roma in Europa oder bei ethnischen Minderheiten in Sibirien. Vor einigen Jahren machte ein Prediger aus Nigeria von sich reden, der eine Gemeinde in Kiew gegründet hatte, die „Vertretung Gottes“, der mittlerweile 40'000 Gläubige angehören, fast ausschließlich weiße Ukrainer.

Welche sozialen Folgen hat diese religiöse Bewegung? Man kann die Pfingstbewegung, wie es der britische Soziologe David Martin tut, als Propagandistin der „protestantischen Ethik“ begreifen und damit als Agentin des sozialen und ökonomischen Fortschritts. Eine andere Sichtweise entdeckt hier eine Art „Cargokult“, wo symbolische Ersatzhandlungen ein Heil herbeiführen, das vor allem durch die Gegenwart von (westlichen) Konsumgütern gekennzeichnet ist – du musst nur glauben und deine Kirche finanziell unterstützen, dann wird dich Gott ohne weiteres Zutun reich machen.

Beide Erklärungen haben etwas für sich, dass wir es also bei der Pfingstbewegung sowohl mit Neo-Puritanern als auch mit Neo-Cargoisten zu tun haben. Allerdings scheinen mir die Neo-Puritaner die entscheidendere Gruppierung zu sein, gewissermaßen die Avantgarde des sozialen Fortschritts. In diesem Zusammenhang sollten wir auch noch einmal auf den Islam schauen. Als Religion hat er sich vor allem in den Gesellschaften verbreitet, die bereits muslimisch waren, in Asien, Afrika und der westlichen Diaspora. Die Pfingstbewegung erweist sich im Unterschied dazu als sehr viel globalere Bewegung, missioniert sie doch erfolgreich auch auf nicht-christlichem Terrain.

Ein Vergleich lohnt sich auch in Hinblick auf die sozialen Folgen. So gibt es durchaus islamische Bewegungen, etwa in Indonesien und der Türkei, die ein funktionales Äquivalent zur „protestantischen Ethik“ formulieren. Und so mag man festhalten, dass es im Islam nichts gibt, was sich gegen eine moderne ökonomische Entwicklung sperrt. Dennoch täte man sich ziemlich schwer mit der Behauptung, das Wiederaufleben des Islam wäre mit einer Modernisierung verbunden, so wie sie gerade von der Pfingstbewegung ausgeht.
Das hat wohl mit der in beiden Gemeinschaften unterschiedlichen Rolle der Frau zu tun. Muslimische Feministinnen mögen recht haben, wenn sie behaupten, der Islam bedeute nicht zwingend eine Herabwürdigung der Frau. Tatsächlich aber haben Frauen in islamischen Ländern einen geringeren Stellenwert – in der Familie wie in der Öffentlichkeit. Die Pfingstbewegung dagegen tendiert dazu, Frauen zu unterstützen, ganz besonders in Lateinamerika, wo sie den Kampf gegen Machomoral und patriarchale Familienstrukturen unterstützt.

Die Pfingstbewegung hat sich vor allem in der südlichen Hemisphäre verbreitet. Die meisten der Protestanten im Süden sind evangelikal: zentriert auf die Bibel, im Glauben an die Macht des Predigers, moralisch eher konservativ, wie sich etwa beim Thema Homosexualität zeigt. Wenn man so will, kann man hier von einer Light-Version der Pfingstbewegung sprechen. Sie hat aber auch längst die Katholische Kirche erreicht, was man daran erkennt, dass sich Bischöfe daran gemacht haben, in ihren Gottesdiensten eine neue Balance zu finden zwischen entfesselter und gebändigter religiöser Begeisterung.

Wir müssen dies im Zusammenhang damit sehen, dass sich das demographische Zentrum der Christenheit von Norden nach Süden verschoben hat. Heute leben mehr Christen in Lateinamerika, Afrika und Asien als in Europa und Nordamerika. Dabei unterscheidet sich das Christentum in den jeweiligen Sphären deutlich. Im Süden geht es durchaus in übernatürliche Dimensionen – das Göttliche und Dämonische ist dort ein integraler Bestandteil des täglichen Lebens. Im Norden geht es sehr viel nüchterner zu.
Rudolf Bultmann hat in den 40er und 50er Jahren beteuert, das Christentum habe nur dann eine Chance, in der modernen Welt zu überleben, wenn man das Neue Testament „demythologisieren“ würde. Er mag wohl recht haben, was die lutheranischen Theologiestudenten in Tübingen oder Uppsala betrifft. Doch wenn sich Bultmann heute einmal in, sagen wir, afrikanischen Kirchen umschaute, dann fände er überall die „mythologische“ Welt des Neuen Testaments vor. Dieser südliche Supernaturalismus schwappt zur Zeit wieder zurück in den Norden.

Bleibt abschließend, an eine andere transnationale Bewegung von Bedeutung zu erinnern: den Säkularismus, so wie er von westlichen Intellektuellen vertreten wird. In zahlreichen Ländern findet eine Art Kulturkampf zwischen den säkularen Eliten und der politisierten religiösen Bevölkerung statt – insbesondere in der Türkei, in Israel und in Indien, aber auch in den USA. Darauf kann ich hier nicht mehr eingehen. Ich wollte Ihre Aufmerksamkeit nur auf den Elefanten gelenkt haben, der hier mitten in der Paulskirche steht.

Peter L. Berger in der Frankfurter Rundschau 12. Oktober 2010

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